Der Himmel war hochglanzpoliert hellblau und die Wälder des Green Mountain State leuchteten in allen erdenklichen Nuancen im Spektrum zwischen Grün, Orange und Rot. Der Indian Summer hier im äußersten Nordosten Amerikas war ein pinselschwingender Magier, der so klare und intensive Farben auf die Landschaftsleinwand zauberte, wie es sich ein menschliches Pendant niemals trauen würde. Es war mehr Bild als Realität.
Im Gegensatz zu einem Gemälde trugen hier, unweit des Lake Carmi, außerdem noch die angenehm warme Luft, die sich wie eine frisch gewaschene Wolldecke um einen schmiegte, das meeresähnliche Rauschen der kunterbunten Blätter, der Geruch von warmen Laub sowie das gelegentliche Zwitschern oder Flattern eines Vogels zum Eindruck vollkommener Idylle bei.
Eine trügerische Idylle wohlgemerkt. Schon zu Zeiten der Prohibition, immerhin fast 20 Jahre her, waren hier in Vermont, unweit der kanadischen Grenze mehr Jahre Zuchthaus zu Fuß, zu Ross, per Automobil oder auf dem Wasser unterwegs, als es die ruhige Abgeschiedenheit der Wälder, Flüsse und Seen erahnen ließ. Man sagte, es sei zeitweise mehr Whisky oder auch selbstgebrannter Schnaps, sogenannter „Moonshine“, in Holz- und Blechfässern unterwegs gewesen als Wasser in den Bächen und Flüssen. Nicht selten frisierten dazu die „Bootlegger“, tollkühne Teufelskerle im Temporausch, ihre Wagen bis an die Grenze des machbaren um möglichst schnell ihre Ladung zustellen zu können und dabei schneller zu sein als das Gesetz. Überall gab es aufgegebene Farmen, die dann zu Zeiten der Cosa Nostra den organisierten Schmugglerbanden als Relaisstationen dienten. Oder aber freischaffenden Glücksrittern Unterschlupf boten und den Gehöften, Hütten oder Schuppen somit einen zweiten Frühling bescherten. Ab Mitte der Dreißiger nahm die Natur die Bauten wieder in ihre Obhut zurück und gab sie nach und nach der Vergessenheit preis. So mancher arme Teufel verlor hier jedoch sein Leben, noch bevor er seine „Sendung“ zustellen konnte. So kam es, dass der ein oder andere hochprozentige Tropfen gut verpackt und sicher versteckt auf seine Wiederentdeckung wartete. Es gab sogar Geschichten von randvoll beladenen Truck-Konvois, die tief in den Wäldern, in Höhlen, Minen oder engen Tälern, zugedeckt und getarnt den Lauf der Zeit überdauert haben könnten, da nur der jeweilige Fahrer die genaue Position der Wagen kannte. Leider trat nämlich bei so manchem Kurier gelegentlich vor dem Ende eines kurzen Nickerchens im nächsten „Smugglers-Inn“ das Ende seines Abenteurer-Lebens ein.
Jetzt, im Nachkriegs-Amerika unter Truman, waren es aber eher die Wohlhabenden der Ostküste, die hier im ländlichen Norden ihr privates Glück im Bau eines mehr oder minder repräsentativen Wochenendhauses suchten und somit die Grundstückspreise stetig ansteigen ließen. So kam es auch gelegentlich vor, dass sich auf schmalen Straßen der Gegend hin und wieder unter das klappernde Nageln und Rasseln der urtümlichen aber unverwüstlichen Tin Lizzies, der Dodge-Trucks und anderen, zum Teil aus Militärbeständen stammenden, motorisierten Lasteneseln das sonore, tief-frequente Brummen nobler und hubraumstarker Limousinen, Coupés und Roadster mogelte. Überwiegend amerikanischer, manchmal aber auch europäischer Herkunft. Ebenso mischten sich die chrom-glänzenden Kühler-Kathedralen der DeSotos, Auspuff-Orgien einzelner Duesenberg SJs, Fischmäuler der Hudson Hornets und neuerdings auch die Raketen-Nasen der Studebaker Commander unter solche Exoten wie den Peugeot 402 mit seinen Doppellampen im Grill, den Lancia Belna mit seinem extrem langen Heck oder den Tatra 87 mit seiner markanten Heckflosse. Speziell seit dem Ende des Europäischen Teil des letzten Kriegs. Selbst deutsche Luxus-Vorkriegssportwagen wie den Hubraumgiganten Horch 670, den Mercedes 500 K oder den Maybach Zeppelin hatte man schon hier auf dem Land gesehen. Nicht täglich, nicht wöchentlich, aber immerhin gelegentlich. Vor allem im Sommer und jetzt im Herbst.
Deutsche fielen also im Allgemeinen nicht übermäßig auf. Weder Personen noch Autos. Mittlerweile waren nämlich deutsche Immigranten sowohl als Handwerker und Arbeiter als auch als Wissenschaftler, Architekten oder Investoren einigermaßen gerne gesehen, denn das Feindbild des durchschnittlichen Amerikaners hatte sich jetzt im Kalten Krieg und unter dem Einfluss McCarthys schlagartig gegen jegliche Form von vermeintlichen Kommunismus gerichtet. Also wurde hier in Vermont, wie auch in ganz Amerika, den diversen Preziosen automobiler deutscher Ingenieursleistung sowohl mit neugierigem Interesse als auch mit bewunderndem Wohlwollen begegnet. Normalerweise. Es sei denn, sie flogen wie vom Teufel gehetzt mit donnerndem Motorsound über die staubigen Straßen der Gegend und ihrer kleinen Ansiedlungen. So wie heute zum Beispiel.
Der See lag trotz einer leichten Bewegung der auffallend lauen Luft absolut ruhig zwischen den leuchtend rot-orangen Bäumen und langhalmigen, strohgelb-grünen Wiesen. Es kündigte sich auch zuerst nur als dumpfes Grummeln im Hintergrund an. Leicht an- und abschwellend wie Wellenplätschern. Ansonsten regierte hier nach wie vor die malerische Stille und Harmonie einer kleinen Straße parallel zum Seeufer. Zumindest kurzfristig. Dann addierten sich zu dem – mittlerweile deutlich zu erkennenden – aggressiven Aufheulen unterschiedlicher Motoren das – mehr scharrende als quietschende – Geräusch von Reifen auf unzureichend befestigten Straßen sowie das nervöse Schreien von Polizei-Sirenen. Teilweise drang auch das peitschende Geräusch einer abgefeuerten Waffe durch. Man konnte sich fast an die – hier nicht seltenen – Verfolgungsjagden Anfang der dreißiger Jahre erinnert fühlen. Was dann jedoch passierte, machte aus dem gelebten Ölbild „Herbstliche Straße am See“ schlagartig ein blitzlichtartiges Kriegs-Szenario aus Übersee. Sozusagen Pearl Harbour und Omaha Beach in einem Wimpernschlag verdichtet. Der erste Wagen, ein schwarzer Mercedes Benz 540 K in der Version als gepanzerte zweitürige Limousine, raste mit voller Geschwindigkeit über eine hölzerne, überdachte und rund 30 Meter lange Bachbrücke, die unmittelbar aus dem Wald heraus direkt auf eine ziemlich große, zum See hin offene, Lichtung führte. Nur einen Augenblick später fuhren auch die beiden verfolgenden Autos, zwei deutlich modernere, schwarze 49er Ford Custom, viertürige Ponton-Limousinen von Hoovers Bundespolizei FBI, aus dem Wald heraus auf die Brücke auf.
Das Klappern der Holzbohlen unter den Reifen beider Autos und das Crescendo der Sirenen erreichte gerade seinen Höhepunkt, als ein infernalischer Donnerschlag den See vibrieren ließ und sich die Brücke samt der darauf befindlichen Fahrzeuge in einem gigantischen Feuerball quasi selbst pulverisierte. Den Gesetzen der Physik folgend erreichten sogar noch einige Bauteile des ersten Verfolgerfahrzeugs die andere Brückenseite in gerader Verlängerung der Fahrtrichtung, aber der Großteil aller verbleibenden Fahrzeug- und Holzbrückenfragmente fiel innerhalb der folgenden Sekunden in einem Radius von fast fünfzig Metern wie brennender Regen senkrecht zu Boden. Zu dem Trommeln der aufschlagenden Trümmerteile und dem Prasseln brennender Holzstücke gesellte sich noch das hundertfache Alarm-Gekreische und Flügelschlagen der aufgeschreckten Vögel rund um die Lichtung und den See.
Als die Gravitation ihren Job erledigt und die Tierwelt zu ihrer üblichen Statistenrolle zurückgefunden hat, herrschte eine seltsame Stille. Nicht unbedingt absolut still, denn die brennenden Teile verursachten ironischerweise durchaus noch so etwas wie Lagerfeuer-Knistern. Aber gemessen am gewaltigen Donnerschlag der vorangegangenen Explosion war es schon fast totenstill. Auch im unmittelbaren Umfeld war es ruhig, denn der Wagen, der zuvor die Brücke unbeschädigt passierte, stand keine hundert Meter entfernt vom ehemaligen Standort derselben mit ausgeschaltetem Motor inmitten einer sich auflösenden Staubwolke auf der Straße. Wenn man genau hinhörte, konnte man noch das leise Ticken der abkühlenden Auspuffanlage hören. Dann öffnete sich die Tür und ein auffallend elegant gekleideter, sportlicher Mittvierziger stieg aus, ging zum Heck des Fahrzeugs, lehnte sich dort an den Kotflügel und begann eine Zigarette zu rauchen, wobei er das Schlachtfeld-Panorama auf sich wirken lies. „Kawumm!“ hauchte er leise mit den Rauchwolken seiner Zigarette in die Luft. Während er weiter langsam und tief inhalierte, begann schon der ein oder andere Federträger wieder mit seinem herbstlichen Abgesang. Über dieser Szenerie konnte man immer noch verzerrte Reste der dunklen Explosionswolke ausmachen, die sich – langsam verblassend – vor dem intensiven Blau des Himmels abzeichnete.
„Und, wie war ich, Pete?“ Aus dem Waldrand unweit des Autos trat eine weitere Person an den Wagen heran. Sie war ebenfalls sportlich schlank und trug eine verschlissene Arbeiterkluft mit Schiebermütze. „Alle erwischt. Sieben auf einen Streich, Katty!“ sagte Pete und schmunzelte. Katty schmunzelte zurück. „Aber deutlich zu laut!“ setzte Pete nach, sehr um einen ernsteren Gesichtsausdruck bemüht. „Ach, hör doch auf!“ alberte Katty, zog sich dabei die Mütze vom Kopf und gab den Blick frei auf eine blonde Mähne, die ihr bis zum unteren Ende der Schulterblätter reichte. Auch sie war in den frühen Vierzigern, hatte sich aber ein fast schon jugendliches Aussehen bewahrt. „Du hast gesagt, wir machen es wie immer: gründlich! Und diesmal endgültig.“ schob sie hinterher und küsste Pete auf den Mund während sie sich gleichzeitig die oberen drei Knöpfe ihrer Jacke aufnestelte. „Stimmt, “ sagte Pete, „aber wir müssen uns nicht jedes Mal ein regelrechtes Denkmal setzen. Die Rauchwolke ist von Kanada bis New York zu sehen und auf dem Lake Champlain sucht man schon nach dem Dampfschiff, dessen Kessel soeben zerknallt ist!“ „Unglaublich witzig, da will man einfach mal…“ Weiter kam Katty nicht, denn Pete griff geschickt und offenbar routiniert um ihre Hüfte herum, hievte sie auf den Kotflügel und begann mit seiner Zunge die ihrige zu jagen während sich seine Lippen die notwendige Dichtigkeit verschafften. Gleichzeitig wanderten seine Hände etwas tiefer in Richtung des groben Seils, welches standhaft versuchte, die Arbeiterhosen ihren Rundungen zu unterwerfen ohne den Inhalt direkt erahnen zu lassen. Sie wehrte sich nicht wirklich, aber mehr oder weniger energisch versuchte sie seine Lippenblockade zu durchbrechen und raunzte: „Pete, nicht hier, nicht jetzt. Wir müssen weg, bevor es doch noch den ein oder anderen neugierigen Bauernlümmel hier hin verschlägt.“
„Glaube ich nicht. Hier ist keine Menschenseele weit und breit. Zumindest keine, die noch an ihren lebenden Körper gebunden ist. Außer uns. Und ich will es. Gerade hier und jetzt. Immerhin endet hier ein nicht gerade unbedeutender Teil Deines und meines Lebens.“ Katty seufzte. „Ist doch so!“ fuhr er fort, „Archy und seine Bundes-Hampelmänner haben uns die letzten 4 Jahre tausende von Meilen durch etliche Staaten gejagt, aber weder er hier in Amerika, noch Kossi und seine braunen Schergen in Deutschland oder gar der verdammte Krieg haben uns erwischt. Zeitweise getrennt, ja, aber nie erwischt. Nur noch ein einziges Mal eine neue Identität, vielleicht sogar eine neue alte, endlich wieder Peter und Katharina anstatt Pete und Katty oder Piotr und Katinka oder wie auch immer. Danach keine Lügen mehr, keine Verfolgungsjagden, keine schlaflosen Nächte. Das Schlachtschiff hier machen wir noch innerhalb der nächsten Woche zu barer Münze, es ist alles organisiert. Dann fahren wir sofort zurück nach Europa und vergolden dort nach und nach unsere ‚Rücklagen‘. Wer weiß, wie lange wir sie alle noch im Zugriff haben bevor die Russen ihr Herrschaftsgebiet hermetisch abriegeln. Du wirst sehen, Katty, wir haben es geschafft. Hier endet es und genau hier fängt es an. Was wir machen, machen wir gründlich!“ Katty lächelte und ergab sich erneut seiner Zungenjagd.
Sie hörten es beide. Es war wie ein Peitschenknall. Nur schärfer. Und verdammt nah. Noch während sie es hörten, zuckte Pete unnatürlich heftig und seine Zunge wurde in Sekundenbruchteilen zu einem leblosen Stück Fleisch in Kattys Mund. Seine Augen waren weit aufgerissen als er von ihr herab glitt. Die Kugel hatte seinen Hals im Bereich der Nackenwirbel durchtrennt und sein Tod war eine Frage von Millisekunden. Katty spürte den Geschmack von Blut. Sie hatte nicht einmal Zeit, seinen Namen zu sagen. Der niedersinkende Pete gab ihren Blick frei auf den Mensch, der soeben Pete von schräg hinten ‚erwischt‘ hatte. Wobei sich der Begriff ‚Mensch’ hier nicht sofort als offensichtlich richtig erwies. Sie sah ein wassertropfendes und blutüberströmtes Geschöpf mit einer riesigen offenen Wunde am Kopf, einem – mit Stofffetzen umwickelten – fleischigen Etwas, wo früher mal die linke Hand war und einem gebrochenen Bein, welches den Fuß in eine widernatürliche Richtung zwang. Aber „es“ hielt nicht nur sich selbst auf einem Bein überraschend stabil, sondern auch eine Repetierflinte in der verbleibenden Hand. Erneut geladen. Genau auf den Kopf von Katty gerichtet. Sie war starr vor Angst. Und „es“ sprach.
„Katty!“ „Arch!“ „Archibald Grain. So viel Zeit muss sein, Katty Burmester. Oder soll ich besser sagen: Katharina Burmester? Geborene Weidenbach?“ „Weidenbusch! Arsch!“ Diesmal sprach sie seinen Namen deutlich näher an einem deutschen Schimpfwort aus als er es ahnen konnte! „Ach ja, richtig. Ist aber auch egal. Hier ist nämlich das Ende der Reise.“ Kattys Augen verengten sich zu einem Schlitz. Die Szene erschien ihr surreal. Vor weniger als einer Minute war sie noch kurz davor sich auf dem Heck eines Sportcoupés nehmen zu lassen und jetzt blickte sie in den Lauf einer geladen Waffe. Gehalten von einem Mann, von dem sie im Augenblick so ziemlich alles außer Gnade oder Mitleid erwarten konnte. Im Gegenteil. „Leck mich!“ fauchte sie halblaut. „Zu spät. Das hättest Du Dir früher überlegen müssen.“ Katty reagierte nicht. „Bin ja schon fast ein wenig traurig, dass es hier so ganz ohne Publikum endet. Sind ja wohl alle tot.“ Katty starrte ihn immer noch wortlos an. „Wobei es mich ja doch schon mal interessieren würde, wie ihr zwei mir all die Jahre immer wieder entwischen konntet. Mir immer einen kleinen Schritt voraus. Immer passend besser informiert und motorisiert. Und ganz nebenbei lasst ihr immer mal wieder den ein oder anderen meiner Jungs ins Gras beißen oder verschwinden. Bestechung? Verrat?“ „So ähnlich…“ Katty überlegte, wie sie Zeit gewinnen konnte. Oder besser gesagt, ob es überhaupt sinnvoll ist, Zeit zu gewinnen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Arch den Anschlag überleben konnte. Und wenn er überlebt hat, wer könnte da noch alles aus dem Bach, dem See oder dem hohen Gras gekrochen kommen? „Auch wenn Du es vielleicht nie verstehen wirst, aber Männer stehen fast immer auf die gleichen beiden Dinge!“ „Welche? Sex? Geld?“ „Nah dran. Wir haben uns aber eher auf Frauen und Autos konzentriert! Die sind beide nicht so schwierig zu beschaffen.“ „OK“, zischte Arch, „zuerst über Dich und dann mit einem Nazi-Panzer über einen unserer neuen Highways. So wie Pete.“ Er blickte an ihr herunter. „Eigentlich ist er einen viel zu schönen Tod gestorben!“
Katty schaute ebenfalls herunter und erschrak. Pete kniete förmlich vor ihr, den Kopf im Nacken mit weit aufgerissenen Augen und ebenso offenem Mund ihr zugewendet. Er konnte weder weiter herunter rutschen noch umkippen, denn seine rechte Hand steckte immer noch in ihrer Hose, da sie fast zeitgleich mit dem Exodus ihren Weg am Seil vorbei in Richtung ihres Schoßes gefunden hatte. Grotesk. Sie schaute Archibald erneut an. „Ich müsste eigentlich tot sein, stimmt’s?“ fragte er. Sie sagte nichts. „Na gut, es hätte ja auch fast geklappt. Zumindest habt ihr genug Sprengstoff benutzt um eine ganze Legion ins Jenseits zu befördern!“ „Offensichtlich noch zu wenig!“ fand sie.
„Tja, hätte aber auch nichts gebracht. Ironie des Schicksals ist es nämlich, dass ich quasi Opfer eines Verkehrsunfalls wurde, nur wenige Sekunden vor dem Big Bang!“ Katty zog die Augenbrauen hoch. „Ja. Als ich nämlich unmittelbar vor der Lichtung bemerkte, dass wir im vollen Galopp auf eine Brücke zurasten, erinnerte ich mich an Eure ach so geliebte und erfolgreiche Zugbrückentaktik. Also sprang ich gerade noch rechtzeitig aus dem Auto. OK, bei der Geschwindigkeit nicht unbedingt die beste Idee.“ Katty sah das irgendwie anders. „Hat mir aber zumindest das Leben gerettet, “ fuhr er fort „denn nach der einen oder anderen Begegnung mit Bäumen und Steinen landete ich im Wasser. Direkt neben der Brücke. Die Explosion selbst ging zwar regelrecht über mich hinweg, aber eines der Räder hat mich dann doch noch am Kopf erwischt!“ Kattys Augenbrauen wanderten wieder zurück in die Ausgangsstellung. Sie selbst hatte von der anderen Seite der Brücke aus operiert und somit Archibalds Absprung nicht bemerkt. „Ach ja, bevor ich es vergesse, “ fuhr er fort, „ihr seid mir ja auch gar nicht zu zweit entwischt, sondern zu viert“ Wenn Katty zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch irgendwelche Farbe im Gesicht hatte, so war sie nun schlagartig kreidebleich.
„Lass die Kinder da raus. Sie haben nichts damit zu tun. Außerdem wirst Du sie nie finden!“ „Ach komm, Katty. So wie ich Dich kenne liegen Deine beiden Bälger im Augenblick auf dem Rücksitz Eures Nazi-Schlachtschiffs hier und schlafen tief und fest weil ‚die gute Mami’ die leckere Limonade heute Mittag mit einem kräftigen Schuss Valium ‚verfeinert’ hat. Hab ich Recht?“ Katty sagte nichts. „Wusste ich es doch! Da ich im Augenblick nicht wirklich in der Lage bin Deine ‚Qualitäten’ auszuprobieren, werden wir das Ganze hier abkürzen und ich schicke Dich mit einem gezielten Schuss direkt in die Hölle, wo Du Dich dann mit ‚Peter’ und Eurem Führer bis zum jüngsten Gericht über die Qualitäten von ‚Teutschen Waggen und teutschen Frrauen’ auseinander setzen kannst.“ Kattys Lippen pressten sich zu einem extrem schmalen Spalt zusammen.
„Und weil ich kein Unmensch bin, werde ich Dir natürlich auch Deine Bälger ohne großen Zeitverzug hinterher schicken. Dann hast Du sie immer an Deiner Seite. Hoffentlich machen sie nicht vorher die Augen auf, es wäre mir sonst wohl noch irgendwie … unangenehm!“ Er lachte. Zumindest konnte man dies anhand des rhythmischen röchelnd und glucksenden Geräusch aus Richtung seines Kopfes vermuten, denn weder seine Gesichtszüge gehorchten ihm wirklich, noch waren seine Mundwinkel zweifelsfrei zu erkennen. Katty hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, verstärkte schlagartig ihre Körperspannung und war bereit zum Sprung. Noch während sie darüber nachdachte, ob sie die 10 Meter zu Archibald überhaupt schaffen könnte ohne von seiner Kugel getroffen zu werden tat Arch zwei Dinge zeitgleich. Er sagte „Vergiss es, Schlampe!“ und er krümmte seinen Finger.
Katty fror mitten in der Bewegung ein. Sie war zwar keinen einzigen Millimeter in Richtung Archibald weiter gekommen aber zumindest hatte sie jetzt nicht mehr Petes tote Hand in der Hose. Klick. Stille. Es machte weder „Peng“ noch „Bumm“. Es machte einfach nur „Klick“! Dies verschaffte Katty genau den zeitlichen Vorsprung, den sie sich zuvor so sehnlich versucht hatte herbei zu denken. Arch versuchte indes laut fluchend und verzweifelt hektisch mit seiner bis zur Unkenntlichkeit deformierten Hand den Lademechanismus seiner Waffe zu betätigen. Katty reagierte blitzschnell. Sie hatte schon beim ersten Anblick ihres toten Mannes bemerkt, dass er auch heute seinen Revolver in einem Holster auf Höhe seiner Brust stecken hatte. Sie ging zu Boden, riss die Waffe aus ihrer Halterung und drehte sich zu Arch. Auch dieser war erfolgreich. Noch während er den Lauf des Gewehrs in ihre Richtung bewegte, ertönte ein Schuss. Zeitgleich ein zweiter. Beide gingen zu Boden. Archibald Grain mit einem Treffer mitten durchs Herz. Katty Burmester mit einem Streifschuss am Oberschenkel.
Sie kniete am Boden und keuchte. Neben ihr Pete – tot. Vor ihr Archibald – tot. In den Resten der gesprengten Brücke und den Wracks der beiden Ford – mindestens 6 weitere Leichen. Drumherum die schizophrene Idylle des Indian Summer. Katty fluchte und heulte. Der Tag hatte eigentlich phantastisch angefangen. Sie hatten heute Morgen alle zusammen auf der Veranda ihres kleinen Anwesens ganz hier in der Nähe, oberhalb von Enosburgh Falls, in der warmen Herbstsonne erbsHergefrühstückt. Sie war dann später mit den Kindern in die Stadt gefahren, um einige Besorgungen zu machen. Wobei der Name „Stadt“ hier schon irreführend war, denn eigentlich war es nur eine Ansammlung einzelner Siedlungskerne an den Stromschnellen des Missisquoi River mit einer Handvoll Geschäften, Bars, einer Bank und so weiter. Drumherum jeweils noch einige Anwesen und Höfe der Einwohner. Katty kam gerade aus einem der Läden heraus, als sie zwei ihr bekannte Autos bemerkte, die langsam die Main Street herab fuhren. Ihr stockte der Atem. Sie drehte sich um und schob dabei Thomas und Sarah wieder in den Laden herein, aus dem sie gerade gekommen war. Aus dem Schaufenster heraus sah sie nicht nur die zwei Autos vorbeifahren, sie sah auch ihre Befürchtung bestätigt. Im ersten Wagen saß Archibald Grain, der Spezialagent des FBI, der sie nun schon seit Jahren gezielt verfolgte. So nah wie jetzt waren er und seine Männer ihrem Refugium hier in Vermont aber noch nie gekommen. „Kann ich ihnen helfen Mrs. Bowman?“ fragte sie der Verkäufer von der anderen Seite der Ladentheke hinter ihr. „Nein Danke, Mr. Ramsey“ sagte sie, „ich wollte nur nicht Mrs. Seymour in die Arme laufen und mir von ihr stundenlang anhören müssen, wer hier alles Kommunist sein könnte oder nicht!“ Mr. Ramsey lachte. „Schon gut, schon gut!“ sagte er und widmete sich wieder seiner Buchführung. Katty wartete noch einen Moment bis die beiden Wagen weit genug weg waren, ging dann mit den Kindern wieder raus und stieg in ihr Auto, einen 48er Dodge Deluxe der 3. Generation. Sie fuhr relativ zügig die Hauptstraße herunter in die Richtung, aus der Grain und seine Männer gerade kamen. Als sie die meisten Häuser hinter sich hatte, gab sie Vollgas. Archibald Grain war in der Stadt. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Zwei Tage früher als erwartet. Sie fuhr bewusst auf einigen Umwegen zurück zu ihrem Anwesen und schoss dort mit definitiv zu hohem Tempo die Auffahrt hinauf. Pete kam total erschrocken aus dem Schuppen neben dem Haus heraus und ging auf die Staubwolke zu, in der er seine Frau vermuten musste. „Mein Gott Katty, was ist los? Hast Du den Teufel gesehen?“ Sie stieg aus und schaute ihn an. „Du weißt nicht, wie Recht Du hast! Archi und seine Bande sind jetzt schon in der Stadt!“ „Grain und das FBI? Heute schon?“ „Genau, sie sind vor gut zwanzig Minuten die Mainstreet herunter gefahren!“ Jetzt wechselte auch Pete die Gesichtsfarbe. „OK“ sagte er, „Du weißt was das heißt?“ Katty nickte. „Finale!“
Danach lief ein Programm ab, welches sie in den letzten beiden Tagen mehrfach durchgeplant hatten. Zuerst ging Katty mit den Kindern in die Küche und mixte ihnen eine frische Limonade. Als die Kinder dann eingeschlafen waren, brachte sie sie in die Werkstatt zu Pete. Der hatte in einer Ecke des angrenzenden Lagerschuppens eine große Holzkiste freigeräumt und öffnete deren Stirnseite. Darin stand der gepanzerte Mercedes, den sie jetzt für ihre Flucht nutzen wollten. Er startete den Wagen, fuhr heraus und sie setzten die Kinder auf den Rücksitz. Pete ging ins Haus zurück und schnappte sich den jungen Mann, der dort auf einem Sofa in der Küche tief und fest schlief. Er zog ihn aus dem Haus heraus zum Auto und warf ihn in den Kofferraum. Katty war ebenfalls mit ins Haus gegangen und packte eine große Tasche mit einigen Utensilien und Sachen zum Anziehen für sich, Pete und die Kinder. Außerdem suchte sie noch alle wichtigen Dokumente für die nächste Zeit zusammen, steckte sie in eine lederne Aktenmappe und legte sie zu dem anderen Gepäck. Dann brachte sie alles zu Pete. Anschließend ging sie in einen weiteren, kleineren Schuppen und holte dort aus einem getarnten Erdloch im Boden eine nicht unerhebliche Menge an Sprengstoff, Militärmunition und dem notwendigen Zubehör heraus, welche sie dann in den Kofferraum ihres Dodges räumte. Sie gingen noch einmal zusammen ums Haus herum und auch hinein um zu schauen, ob alles ordentlich verschlossen und verriegelt war. Dann gaben sich Katty und Pete einen sehr innigen Kuss und sie stieg in den Dodge. Ihr Ziel war eine Holzbrücke am Lake Carmi, nicht weit von hier. Er sah ihr nach. Schließlich ging er zum Mercedes und fuhr ebenfalls los. Zuerst besuchte er noch einen weitestgehend involvierten Nachbarn namens Josh Willowby, der nicht nur wie sie selbst aus Deutschland kam und ebenso wie sie den Kontakt zu irgendwelchen Behörden mied, solange es möglich war, sondern obendrein auch noch ihm und vor allen Dingen Katty sehr nahe stand. Er drückte ihn kurz an sich und gab ihm eine weitere Mappe mit Dokumenten und Vollmachten. Auf die Frage, wie lange genau sie denn nun weg wären, antwortete Pete: „Hmm, Josh, irgendwas zwischen sehr lange und immer!“ Dann fuhr Pete los. Lockvogel spielen. Er suchte Archibald. Mit Erfolg.
Katty hatte wie immer Recht, sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Bein brannte von Archibalds Treffer. Also verband sie es mit einem Streifen von Petes Jacke und fixierte den Verband so gut es ging mit seinem Gürtel. Danach öffnete sie den Kofferraum. Dieser war bekanntlich nicht wirklich leer. Im Gegenteil. Darin befand sich eine weitere männliche Leiche. Lebendige Leiche wohlgemerkt. Es war Mike, noch keine Zwanzig, der „achte Junge“ aus Archis Team. Eigentlich ein hübscher Kerl und irgendwie auch noch nicht grundverdorben. Trotzdem fast tot. Sein Herz schlug zwar noch und Katty hätte ihn genauso hier entsorgen können wie sie das jetzt mit Archi vorhatte, aber sie konnte es nicht. Er hatte sie vor der Ankunft des FBI gewarnt und wollte für seine „Indiskretion“ weder Geld noch Sex. Er wollte eigentlich nur raus aus Grains Dunstkreis. Und er wollte schon immer mal möglichst zugedröhnt extrem schnell fahren. Er suchte das „Übergefühl“. Dummerweise hatte er sich bei der dazu benötigten Menge Heroin verschätzt, oder hatte schlechten Stoff erwischt. Sein Hirn kündigte ihm den Dienst. Katty und Pete hatten davon jedoch keine Ahnung und seinen „Schuss“ viel zu spät bemerkt. So gesehen: ein Unfall. Seinen letzten „Trip“ hatte er nun zwar in voller Fahrt und gut geschützt im Kofferraum eines extrem seltenen, gepanzerten 200PS-Mercedes verbracht, aber eben auch nicht wirklich bewusst erlebt. „Verdammt! Den hätte ich glatt vergessen“ murmelte sie. Dann packte sie Pete ins Auto und ging mit einem Blechkanister zurück zu Archi. Dieser starrte mit leeren Augen ins blaue Nichts des Vermonter Herbsthimmels. Katty überkam plötzlich das dringende Bedürfnis, es ihm post mortem heimzuzahlen. Und sie trat zu. Nicht nur einmal. Sie reagierte sich förmlich am Mörder ihres Mannes ab. Nach etlichen Tritten hielt sie inne. „Ach ja, “ schnaufte sie, „falls Du in der Hölle zufällig Major King oder ‚meinen Führer’ triffst, sag ihnen nochmal Danke für den ‚teutschen’ Mercedes. Praktisches Auto!“ Sie übergoss Archibald mit ausreichend Treibstoff und zündete ihn an. Zurück am Auto warf sie den Kofferraum zu. Um Mike tat es ihr irgendwie leid. Die Kinder hatten ihn gemocht. Den Anblick des toten Pete hingegen konnte und wollte sie nicht länger ertragen. Sie sprang ins Auto. Fast zeitgleich mit dem Zuschlagen der Autotür ereignete sich die nächste Explosion, wieder nur unweit entfernt von dem ehemaligen Standort der Holzbrücke. Katty schaute auf die Uhr und pfiff leise durch die Zähne. Soeben hatte sich ihr Dodge buchstäblich in Luft aufgelöst, exakt nach Ablauf der Zeit, die sie vorab am Zündmechanismus eingestellt hatte. Sie startete den Motor und gab Gas.
Im Sehschlitz des Rückfensters verschwand die Lichtung mit ihren größeren und kleineren Brandherden im Rot des dichten Baumbestands. Sie schaute nach vorne. Das Brennen in ihrem Bein hatte sie jedoch nicht zurücklassen können und jetzt stahl es sich wieder in ihr Bewusstsein. ‚Wer Zwillinge auf die Welt bringen kann, wird doch wohl noch einen solchen Kratzer überstehen’, dachte sie und drehte sich erneut um in Richtung Rücksitzbank. Dort lagen Thomas und Sarah friedlich nebeneinander und schliefen. Die dreijährigen Zwillinge hatten wirklich nichts mit- und nichts abbekommen. Valium und Stahl sei Dank. Aber Pete war tot. Das tat deutlich mehr weh. Sie spürte die Nässe in ihren Augen. Und gab noch mehr Gas. Zumindest wollte sie Petes Leiche noch anständig auf seinem eigenen Grund bestatten, bevor sie dann Mike auf einer sonnigen Parkbank in unmittelbarer Nähe des Hospitals in Burlington postierte. Außerdem wollte auch sie sich vorher noch persönlich von Josh verabschieden, sie wusste ja nicht, ob sie ihn je wiedersehen würde. Ihr Weg nach New York war also noch weit. Die fast fünfeinhalb Liter Hubraum des Achtzylinders brüllten basslastig auf und schoben den tonnenschweren 540K spürbar an.